Archivbild: Schüler Thomas am Gymnasium in Alsdorf (Nordrhein-Westfalen)
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Morgens länger schlafen: Gleitzeit an Bayerns Schulen denkbar?

Siebtklässler eines Gymnasiums in Plochingen testen ein "Gleitzeit"-Modell: Sie dürfen später zur Schule. Der bayerische Landesschülerrat verlangt einen späteren Unterrichtsbeginn im Freistaat, das Kultusministerium sieht keinen Handlungsbedarf.

Über dieses Thema berichtet: BR24 im Radio am .

Um 7.30 Uhr übermüdet das Haus verlassen und zur Schule eilen - oder noch einmal im Bett umdrehen, weiterschlafen und dafür am Nachmittag nacharbeiten? Schülerinnen und Schüler der Klasse 7a eines Gymnasiums im baden-württembergischen Plochingen haben diese ungewöhnliche Wahlfreiheit jetzt an zwei Tagen in der Woche: Seit Dienstag testet die Klasse sechs Wochen lang ein Gleitzeit-Modell - auf Anregung der Schülerinnen und Schüler.

"Es ist wirklich die Klasse, die in meinem Deutschunterricht auf die Idee gekommen ist", erzählte der Lehrer Till Richter dem SWR. Die Schüler hätten recherchiert, Studien von Schlafforschern gelesen und das Projekt selbst entwickelt.

Wahlfreiheit für Schülerinnen und Schüler

In der Testphase soll es dienstags und freitags in den ersten beiden Schulstunden statt des Deutsch- und Englischunterrichts eine freiwillige Lernzeit geben. Die Schülerinnen und Schüler können um 7.50 Uhr kommen oder erst um 9.40 Uhr in die Schule. Die Siebtklässler erhalten Aufgaben, die sie entweder in dieser Zeit unter Aufsicht in der Schule bearbeiten können oder irgendwann daheim. In beiden Fächern gibt es laut Richter zwei Präsenzstunden, in denen der Stoff erklärt werde.

Schon seit 2016 praktiziert wird ein Gleitzeit-Modell in der Oberstufe des Gymnasiums Alsdorf in Nordrhein-Westfalen. Schülerinnen und Schüler können jeden Tag entscheiden, ob sie zur ersten oder zur zweiten Stunde kommen. Hintergrund ist das Dalton-Konzept - ein Selbsttätigkeitskonzept: Einen Teil des Stoffes müssen sich die Jugendlichen selbst erarbeiten.

Landesschülerrat Bayern für Unterricht ab 9.30 Uhr

Für Bayern fordert der Landesschülerrat (LSR Bayern) sogar generell einen späteren Schulbeginn. "Da wir der Meinung sind, dass die Gesellschaft auch in diesem wichtigen Punkt unbedingt auf die Bedürfnisse von uns Kindern und Jugendlichen achten sollte", sagt LSR-Sprecher Heinrich Ritter gegenüber BR24. "Auch die Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung bestätigt, dass gerade wir Schülerinnen und Schüler aufgrund unseres Biorhythmus' später einschlafen oder dadurch länger schlafen sollten."

Natürlich sei dem Landesschülerrat bewusst, "dass die Umsetzung dieser sinnvollen Forderung nicht ganz einfach ist". Für Eltern könne dies mit Schwierigkeiten verbunden sein, auch Busfahrpläne müssten angepasst werden. "In unseren Augen ist dieses Ziel die Anstrengung aber auf jeden Fall wert, da wir der Meinung sind, dass wir dann ausgeschlafener, aufnahmefähiger und leistungsbereiter wären." Der LSR spreche sich für einen Schulbeginn beispielsweise ab 9.30 Uhr aus.

Ministerium sieht in Bayern "keine Handlungsnotwendigkeit"

Das bayerische Kultusministerium antwortet ausweichend auf die BR24-Frage, wie es den Plochinger Test bewertet. Im Freistaat seien "derzeit keine entsprechenden Anliegen zu Modellversuchen bekannt", teilt das Ministerium mit. Bei der Frage nach einem späteren Unterrichtsbeginn sehe man zudem "keine Handlungsnotwendigkeit". Die Schulen seien bereits jetzt "relativ frei, wie sie den Unterrichtsbeginn gestalten".

Die "Schulordnung für schulartübergreifende Regelungen an Schulen in Bayern" sieht demnach vor, dass die Unterrichtszeit in Absprache mit dem Aufgabenträger der Schülerbeförderung und dem Schulforum festgesetzt werde. "Um insbesondere die Beförderung der Schülerinnen und Schüler sicherstellen zu können, erfolgt üblicherweise eine Abstimmung aller weiterführenden Schulen vor Ort über einheitliche Unterrichtszeiten."

Ein Unterrichtsbeginn gegen 8 Uhr habe sich vielerorts bewährt, betont das Ministerium. "Berufstätige Eltern haben die Gewissheit, wenn sie morgens zur Arbeit müssen, dass ihre Kinder zu relativ einheitlichen Zeiten an der Schule gut aufgehoben sind und betreut werden." Auch sei zu berücksichtigen, dass durch einen späteren Beginn der Unterricht länger in den Nachmittag hineinreiche. Dies könne Auswirkungen auf das außerschulische Engagement haben. "Zudem sind Kinder und Jugendliche während des Vormittags generell am leistungs- und aufnahmefähigsten."

Gleitzeit-Modell wirkt sich positiv aus

Mehrere Wissenschaftler dagegen sehen insbesondere für Jugendliche den frühen Unterrichtsbeginn kritisch. Schlafforscher Michael Feld sagte dem WDR, für Jugendliche oder Pubertierende sei gerade die zweite Nachthälfte wichtig, die in den Morgen hineinreiche. Es gebe Studien aus Finnland, bei denen Schülerinnen und Schüler mit Hirn-Messelektroden am Kopf morgens in der Schule beobachtet worden seien: "Die hatten die Augen auf, aber die Hirnwellen haben noch Schlaf gezeigt."

Chronobiologen der Ludwig-Maximilians-Universität München erforschten vor wenigen Jahren das Alsdorfer Gleitzeit-Modell [externer Link] und kamen zum Schluss, dass davon "so gut wie alle Schüler profitierten". Zwar verlängerten sich die Schlafzeiten insgesamt nur unwesentlich. Trotzdem gaben den Forschern zufolge "durch die Bank" alle Schülerinnen und Schüler an, besser zu schlafen und in der Schule konzentrierter zu sein.

Der Leiter des Zentrums für Chronobiologie an der LMU, Till Roenneberg, kritisierte den Schulbeginn um 8 Uhr schon vor Jahren in der "Süddeutschen Zeitung" als eine "echte biologische Diskriminierung". Während bei Kindern die innere Uhr noch "früh dran" sei, werde es bei Jugendlichen immer später. "Für Kinder ist der Schulbeginn um 8 Uhr also noch nicht so schlimm. Kritisch wird es ab etwa 14 Jahren." 19-Jährige müssten teils während ihrer "inneren Mitternacht" am Unterricht teilnehmen.

Philologenverband zweifelt an Umsetzbarkeit

Der Vorsitzende des Bayerischen Philologenverbands, Michael Schwägerl, ist gespannt darauf, "wie die Klasse 7a in Plochingen die sechs Wochen erlebt und welches Fazit am Ende alle Beteiligten ziehen werden". Der BPV stelle sich auch nicht aus Prinzip gegen "Gleitzeit-Unterricht", schließlich könnte dies auch die Attraktivität des Lehrerberufs erhöhen, sagt er BR24. "Woran wir aber zweifeln, ist die konkrete Umsetzbarkeit."

Zum einen herrsche ein akuter Lehrermangel. "In einer solchen Situation sind die Schulen froh, wenn sie den stundenplanmäßigen Unterricht abdecken können. Alles, was zusätzliche personelle Ressourcen benötigt, ist in dieser Lage einfach nicht drin." Zum anderen sei die Gesellschaft nicht auf "Gleitzeit-Unterricht" ausgerichtet. Alles sei auf die durchschnittlichen Bürozeiten von 8 und 16 Uhr abgestimmt - Schulbusse, Kinderbetreuung sowie Freizeitangebote. "Möchte man also die Unterrichtszeiten flexibler gestalten, muss man wirklich am ganz großen Rad drehen", sagt Schwägerl.

Verband: kein Modell für Grund- und Mittelschule

Der diesjährige Präsident der Arbeitsgemeinschaft Bayerischer Lehrerverbände, Martin Goppel (Katholische Erziehergemeinschaft in Bayern), sieht in der Plochinger Gleitzeit-Idee sowohl Chancen als auch Herausforderungen. Die KEG Bayern erkenne das Potenzial des Modells, den natürlichen Rhythmen von Schülerinnen und Schülern entgegenzukommen. Gerade im ländlichen Raum müssten sie noch früher aufstehen, "da sie einen langen Schulweg beschreiten müssen".

Jedoch müssten bei der Bewertung eines solchen Modells auch praktische Überlegungen berücksichtigt werden: die Arbeitszeit der Eltern, die Schulart, der öffentliche Nahverkehr. Zusätzlich stelle der Klimawandel in Bayern nachmittags wie auch in den Sommermonaten eine neue Herausforderung für die Bildung dar. "Die KEG Bayern steht einem solchen Testlauf an Grund- und Mittelschulen daher aus genannten Gründen kritisch gegenüber, da sich der aktuelle Schulrhythmus bewährt hat", erläutert Goppel. "Solche eigenständige Gleitzeitmodelle machen in der Mittel- und Oberstufe Sinn, nicht aber in der Grund- und Mittelschule."

Plochinger Lehrer jetzt schon zufrieden

Die Siebtklässler am Gymnasium in Plochingen erhoffen sich ihrem Lehrer zufolge neben der Möglichkeit zum Ausschlafen auch gerechtere Noten für "Nachteulen" und mehr Selbstbestimmung in der Schule. Nach dem sechswöchigen Test werde das Projekt mit der ganzen Klasse ausgewertet.

Richter ist aber jetzt schon sehr zufrieden mit dem bisherigen Verlauf. Denn die Schülerinnen hätten in den vergangenen Wochen mitbekommen: "Durch Informieren, durch Argumentieren, durch E-Mails-Schreiben, durch Präsentationen-Halten, durch Dranbleiben können wir etwas an unserer Schule bewegen. Wir können mitgestalten und müssen uns nicht nach dem Wecker der Erwachsenen richten."

Dieser Artikel ist erstmals am 9. April 2024 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.

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